Labyrinthe im Christentum I

Das Labyrinth als Weg zu Gott

CC BY-SA 3.0, Link

Begehbare Labyrinthe in Kirchen üben eine große Faszination aus. Wenn wir sie betreten, durchlaufen wir einen langen Weg, der uns mehrfach zu einer rosettenförmigen Mitte beinahe hin- aber auch wieder wegführt. Erst wenn wir alle Windungen und Wendungen des Weges durchlaufen sind, gelangen wir ins Zentrum und damit in das Ziel des Labyrinths.

Doch dort können wir nicht für immer bleiben. Schließlich müssen wir diese Mitte wieder verlassen und den ganzen Weg zurücklaufen. Ein berühmtes Beispiel für solch ein Labyrinth befindet sich in der Kathedrale von Chartres als Mosaik in den Kirchenboden eingelassen (siehe Bild oben).

Warum jedoch gibt es solche Labyrinthe? Was ist ihr Zweck? Was ihre symbolische Bedeutung?

Das Labyrinth ist zwar kein dezidiert christliches Symbol, seine Verwendung in christlichen Kirchen lässt sich jedoch seit der Spätantike nachweisen. Wenige Jahre nachdem Konstantin den christlichen Glauben im Römischen Reich legalisierte, entstand im Jahr 324 in der Reparatusbasilika in Algerien ein erstes Labyrinth.[1] Im Zielpunkt fanden sich die Worte „sancta eclesia“ (Heilige Kirche).

Irrgarten

Zum Begriff des Labyrinths:

Labyrinthe sind keine Irrgärten. Irrgärten enthalten Sackgassen, Kreuzungen und Kreiswege. Es ist bei einem Irrgargen im Gegensatz zum Labyrinth möglich, sich zu verlaufen und nicht wieder aus dem Irrgarten heraus zu finden. Labyrinthe hingegen haben immer ein Ziel und einen einzigen Weg, um zu diesem Ziel zu gelangen.

Ein paar Jahrhunderte später wurden Labyrinthe bereits als Illustrationen in Manuskripten verwendet. Im 8. Jahrhundert wandelte sich das Labyrinth dabei von seiner klassischen Form mit sieben Kreisläufen (siehe Bild) hin zu seiner in christlichen Kirchen am meisten vertretenen Form mit elf Kreisläufen und einem Zentrum. Seinen klassischen Ausdruck findet das christliche Labyrinth in der Kathedrale von Chartes, die Anfang des 13. Jahrhunderts entstand.[2]

Schema des Labyrinths von Chartres Ssolbergj [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
Das Labyrinth nahm nun eine reine Kreisform an. Der zwölfte innere Kreis in Rosettenform bildet dabei das Zentrum und steht symbolisch für Gott, während sein Umfang, als Kreis ohne Anfang und Ende die Unendlichkeit symbolisiert. Die inneren Windungen des Labyrinths bilden dabei ein Kreuz als Symbol für das Leiden und die Auferstehung Christi. Die wiederum um das Labyrinth herum angebrachten mondförmigen Einbuchtungen dienen als Mondkalender zur Berechnung des Osterfestes.

Die umlaufenden Wege des Bodenmosaiks in Chartres sind 34 cm breit, grau wie der umliegende Steinboden und durch schwarz-blaue Marmorstreifen getrennt. Der Durchmesser des Labyrinths beträgt über 12 Meter. Durchläuft man das Labyrinth vom Eingang bis zur Mitte, legt man einen Weg von fast 262 Metern zurück.

In gotischen Kathedralen liegt der Eingang des Labyrinths im Westen, in Richtung der aufgehenden Sonne, was Hoffnung und Neugeburt durch die Taufe symbolisiert. Dieses Labyrinth wurde von den Pilgern entweder durchlaufen oder auf den Knien durchrutscht. Dabei stand das Kreuz im Mittelpunkt der Erfahrung. Alle Wendungen des Weges, den die Läufer im Labyrinth ablaufen, sind um dieses Kreuz herum angeordnet. Jedes Mal, wenn ein Labyrinthläufer an das Kreuz stößt, wird er zur Umkehr gezwungen.

Kathedrale von Chartres

Auch die elf Kreiswege des Labyrinths sind symbolisch zu verstehen. Die Zahl Elf gilt im Christentum als Zahl der Unvollkommenheit. Nachdem Judas Iskariot von den Jüngern Christi abfiel und Jesus verriet, blieben nur noch elf Jünger übrig und ein neuer Jünger musste erwählt werden, um die Zahl wieder voll zu machen. Entsprechend wird auch die Zwölf als Zahl der Vollkommenheit (Apostel und Monate) erst erreicht, wenn der Labyrinthläufer ins Zentrum vordringt. Der Mensch erfährt also, während er das Labyrinth durchläuft, seine Unvollkommenheit. Erst wenn er das Zentrum (= Einkehr zu Gott) findet, erlangt er Vollkommenheit.

Das Labyrinth hat 34 Kehren, das heißt, vierundreißig Mal muss der Pilger sich am Kreuz stoßen und umkehren, wenn er den Weg ins Zentrum abschreitet. Ist er aber ins Zentrum gelangt, muss er zurückkehren und die Mitte wieder verlassen. Die Einkehr in Gott ist in dieser Welt immer nur vorübergehend. Dies sind die 33 Lebensjahre Christi zuzüglich der einen Kehre, der erneuten Abkehr, die den Menschen seiner Vergänglichkeit bewusst werden lässt.

Das Labyrinth kann also in diesem Sinne als ein begehbarer Erfahrungsweg zu Gott verstanden werden, als ein leicht zugängliches und dabei zugleich konkret erfahrbares Symbol für den menschlichen Lebensweg hin zu Gott.

[1] Robert D. Ferré: Church Labrinths. Questions & Answers regarding the history, relevance, and use of labyrinths in churches. St. Louis, 2013. S. 5.

[2] Ebd. S. 6 f.

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