Wie wir 2006 Opfer der Vogelgrippe wurden

Als 2006 der Vogelgrippen-Notstand ausgerufen wurde, lebten wir in Brandenburg auf einem kleinen Bauernhof und hielten Hühner. Wir nutzten damals noch Massenmedien und glaubten, dass tatsächlich eine Katastrophe bevorsteht und demnächst Millionen Menschen an der Vogelgrippe sterben werden. Überdies erhielten wir ein offizielles Schreiben vom Veterinäramt, das die Isolation unserer kleinen Hühnerschar anordnete.

Nachdem man vor der Grundschule meiner Kinder auch noch einen toten Vogel fand und die Schule abgesperrt wurde, wuchs unsere Angst ins Unermessliche. Wir fürchteten, dass unsere Kinder sich bei unseren Hühnern die Vogelgrippe hohlen könnten und baten einen mit meinen Eltern befreundeten, bekannten und angesehenen Virologen um Rat. Dieser meinte zu uns, in naher Zukunft gäbe es aufgrund der Pandemie so gut wie keine Vögel mehr, es würden sehr viele Menschen an der Vogelgrippe sterben und riet uns dazu, zu unserer Sicherheit die Hühner sofort zu schlachten. Daher nahm ich mit schweren Herzen und sehr großer innerer Überwindung die Notschlachtung unserer armen kleinen Hühnerschar vor.

Kurz nachdem ich mein blutiges Werk vollbracht hatte, verpuffte die angekündigte Pandemie ins Nichts.

Schnell wurde mir klar, dass ich auf eine billige, massenmediale Angstkampagne hereingefallen war und meine Hühner umsonst geschlachtet hatte. Ich ärgerte mich über mich selbst und nahm mir für die Zukunft vor, von nun an jedwede Angstmache durch die Massenmedien zu hinterfragen, immer die Ruhe zu bewahren und wichtige Entscheidungen nur noch nach langer und ruhiger Abwägung zu treffen.

Mehr zu Denken gab mir aber die vollkommene Fehleinschätzung der Wirklichkeit durch den mit meinen Eltern befreundeten Virologen, immerhin eine Koryphäe in seinem Bereich und Universitätsprofessor an einer deutschen Universität.

Da dieser Virologe mit mir ganz privat gesprochen hatte, kann man davon ausgehen, dass er keine Fremdinteressen vertrat. Ich hatte ihn um Rat gebeten, er hatte ihn mir in Form einer vollkommenen Fehleinschätzung der Wirklichkeit gegeben.  Meine Erklärungsversuche hierfür sahen wie folgt aus:

  1. Das von den 68ern kritisierte Fachidiotentum: Für einen Virologen steht das Virus im Mittelpunkt der Wahrnehmung. Er kennt das Virus wie kein anderer und weiß daher, welche Gefahren insbesondere für kranke und anfällige Menschen von ihm ausgehen. Gleichzeitig kann der Virologe aber die Welt aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit dem Krankheitserreger nur noch von dieser Perspektive aus betrachten. Für ihn wächst das Virus zum allgegenwärtigen Monstrum, das in der Lage ist, die weltweite Vogelpopulation auszulöschen und Millionen Menschen zu töten. Zu einer Betrachtung der Welt aus einer objektiven Perspektive ist er aufgrund seiner viel zu intensiven Beschäftigung mit dem Virus nicht mehr in der Lage.
  2. Das Verwechseln von Wissenschaft und Wirklichkeit durch die Wissenschaft: Laut Karl Popper kann Wissenschaft nicht mehr, als Hypothesen darüber aufstellen, wie die Wirklichkeit funktioniert. Diese Hypothesen besitzen nur so lange Gültigkeit, bis sie durch ein Gegenbeispiel widerlegt wurden. Man bezeichnet dies als Falsifikationsmethode. Wissenschaft ist somit der menschliche Versuch einer annähernden Wirklichkeitsbeschreibung auf Basis von jederzeit widerlegbaren Hypothesen. Keinesfalls ist eine Hypothese identisch mit der Wirklichkeit. So gut moderne Wissenschaft auch sein mag. Die Kluft zwischen Hypothese und Wirklichkeit ist mitunter sehr viel größer, als durch den modernen, wissenschaftlich tätigen Menschen wahrgenommen.
  3. Wissenschaftsgläubigkeit: Mit Aufklärung und Französischer Revolution fand eine ungeheure Verschiebung in der Weltwahrnehmung und Psyche der Menschen statt. Hielt die breite Masse im 18. Jahrhundert den Pfarrer noch für eine Autoritätsperson, dessen Aussagen das eigene Weltbild entscheidend prägten, ist der moderne Mensch psychologisch dazu übergegangen, diesen Glauben auf die Wissenschaft zu übertragen. Was vor der Französischen Revolution die Religion war, wurde in den folgenden Jahrhunderten die Wissenschaft. Nämlich eine Instanz, dem jeder vernünftige Mensch Glauben zu schenken hat und deren Erklärungsversuche der Wirklichkeit für das Weltbild des Einzelnen (sowie den Wissenschaftler selbst) verpflichtend sind.

Was mich bis heute als westlich geprägter Mensch zum Staunen bringt, ist vor allem aber die immer offener zutage tretende Kluft zwischen der Wirklichkeit und dem wissenschaftlichen Versuch, diese Wirklichkeit zu beschreiben. Besonders offensichtlich wird dies, wenn die Wissenschaft dazu ansetzt, Aussagen über die nahe und ferne Zukunft zu treffen.

Was bei einfachen, physikalischen Vorgängen, wie dem freien Fall eines Körpers noch auf der Hand zu liegen scheint, wird bei genauerer Betrachtung zu etwas, das den menschlichen Verstand weit übersteigt.

So glauben wir vorhersagen zu können, dass ein aus dem Hochhaus geworfener Apfel zu einem bestimmten Zeitpunkt unten auf dem Boden aufschlägt und verkaufen dies als Wissenschaft. Doch zeigt sich im konkreten Fall, wie wenig wir in der Lage waren, die wirklichen Ereignisse vorherzusagen.

Denn als der Apfel wirklich aus dem Fenster im vierzehnten Stock geworfen wurde, öffnete zwei Stockwerke weiter unten ein Nachbar ein Fenster und schüttelte seine Bettwäsche aus. Der Apfel schlug gegen das Laken, kam vom Kurs ab, flog weiter hinaus in Richtung Straße und landete auf dem Dach eines Lastkraftwagens, weswegen wir bis zum heutigen Tag trotz unserer akkuraten wissenschaftlichen Prognose nicht wissen, ob unser Apfel jemals mit dem Erdboden in Berührung kam oder ob er immer noch auf dem Lastwagendach vor sich hinrottet.

Die Welt und insbesondere die Ereignisse in dieser Welt sind also etwas, das sich der pauschalen menschlichen Berechenbarkeit entzieht. Wir glauben zwar, dass unsere wissenschaftlichen Gesetze hierzu in der Lage wären, lassen uns dabei jedoch durch den immensen technischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte blenden. Denn nur weil der Mensch in der Lage ist, einen Standcomputer zu allgemein erschwinglichen Preisen industriell herzustellen, heißt das nicht, dass er die Zukunft vorhersagen kann.

Dies war für mich übrigens auch ein Ereignis in einer langen Kette von Ereignissen, mit denen für mich langsam, Schritt für Schritt, wieder Gott ins Spiel kam. Nicht als Lückenfüller für das Unerklärliche. Nicht als derjenige, dem man vor dem Urknall netterweise noch den Bruchteil einer Sekunde wirklichen Wirkens zugestand, bevor die wissenschaftlich erklärte Weltgeschichte ihren Lauf nahm, sondern als Christus, der mich liebend in einer Welt begleitet, von der ich trotz allem Stolz und aller Einbildung, überhaupt nichts verstanden habe.

Was mir von der Wissenschaft bleibt, ist das Staunen.

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