Als am 20. April 1998, pünktlich zu Hitlers Geburtstag, die rote Terrorgruppe RAF in einem Brief an die Nachrichtenagentur Reuters ihre Auflösung bekannt gab, war sie in der öffentlichen Wahrnehmung bereits zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Der militante Kampf sei „nichts als ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Befreiung gewesen“ hieß es in dem Schreiben. Die Ära Kohl ging damals zu Ende und die erst rot-grüne Regierung stand vor der Tür. Das, wofür die RAF mit gewaltsamen Mitteln eingetreten war, die befreite, offene Gesellschaft, war in Form einer friedlichen Revolution, dem „langen Marsch durch die Institutionen“ längst Wirklichkeit geworden.
Butz Peters: “Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF”
S. Fischer Verlag, 4. Auflage Berlin 2008.
Preis: 12,95 €, Taschenbuch, 864 Seiten.
ISBN: 978-3-596-17265-8
Dennoch bleibt die Geschichte der RAF eines der spannendsten und aufschlussreichsten Kapitel bundesdeutscher Geschichte. Butz Peters Buch: „Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF“ gehört dabei zu den Klassikern, was Aufarbeitung und offizielle Darstellung der RAF-Geschichte anbelangt.
Von „offizieller Darstellung“ bzw. Geschichtsschreibung muss dabei schon allein deswegen gesprochen werden, da es in der Häufung doch auffällt, wie sich Butz Peters immer wieder bemüht, die damalige „Neue Linke“, aus der später u. a. die Grünen hervorgingen, in Schutz zu nehmen, indem er betont, wie sehr sich diese von der RAF distanziert habe.
Da ich in diesem Fall selbst so etwas wie ein Zeitzeuge bin und die Diskussionen um die RAF als Jugendlicher miterlebt habe, muss ich an dieser Stelle doch ausdrücklich widersprechen. Ich erinnere mich einfach noch zu gut an den weitverbreiteten Spruch von einigen Sandalen und Jeans tragenden Lehrern: „Die Ideale, für die die RAF kämpft sind gut, nur ihre Methoden nicht.“
Eine Aussage, die meiner Wahrnehmung nach durchaus typisch war für das grün-linke Milieu und nicht wirklich, wie Butz Peters impliziert, einer Distanzierung gleichkommt. Denn wenn die Ideale der RAF gut waren, nur ihre Methoden nicht, dann teilte man selbst das Ideal einer kommunistischen „Befreiung“.
Es gab, wie ich mich erinnere, in der Schule sogar einmal eine Art Diskussion mit einem Lehrer, in dem Sinne: „Was würdet ihr tun, wenn einer von der RAF bei euch vor der Tür steht und um Unterschlupf bittet? Würdet ihr zur Polizei gehen oder ihn verstecken?“ Ergebnis der durch den Lehrer geleiteten Diskussion war am Ende auch hier, die RAF kämpfe mit falschen Mitteln für eine an sich gute Sache. Auch ist mir der Fall eines damals jungen Polizisten bekannt, der wegen der angeblichen Isolationsfolter der ersten RAF-Generation im Stammheim seinen Dienst quittierte.
Positiv an Butz Peters Buch ist dennoch die Erwähnung prominenter Fälle offener Solidarität mit der RAF. So der Fall des damaligen Modeschriftsteller Heinrich Böll am 17. Januar 1972 im Spiegel. Nach dem RAF-Mord an einem Polizisten, der eine Witwe und zwei kleine Kinder zurückließ, verglich Böll die landesweite Fahndung nach den RAF-Mördern mit der Verfolgungen von Minderheiten und Oppositionellen im Dritten Reich. Er fragte die Leser, ob es „alle vergessen“ hätten, „was es bedeutet, verfolgt und gehetzt zu sein.“
Wenn Butz Peters dabei den Schriftsteller Böll mit seiner Parteinahme für die RAF als Einzelfall hinstellt, übersieht er, diese Verkehrung der Opfer-Täter-Rolle, war im damaligen rot-linken Milieu Normalität und nicht Ausnahme.
Noch sonderbarer klingt das bei Peters im Fall der Band „Ton Steine Scherben“ um Sänger Rio Reiser. Immerhin gab die RAF-Kommandoebene bei „Ton Steine Scherben“ persönlich einen „Widerstandssong“ in Auftrag, der dann auch in Form des Lieds „Keine Macht für Niemand“ geliefert wurde. Es bleibt mir in diesem Zusammenhang unerklärlich, weshalb den Musikern durch Butz Peters nicht zugestanden werden sollte, von Andreas Baader fasziniert gewesen zu sein. Das war im Milieu der Musiker nichts Ungewöhnliches: Dürfen wir der Beschreibung des geheimen Treffens glauben, bei der Baader im Untergrund lässig mit der „Knarre spielte“, dann dürfte die Begeisterung der Musiker vor dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse mehr als verständlich gewesen sein. Die RAF faszinierte und galt vielen als Avantgarde der Revolution, als notwendiger Ausdruck im Kampf gegen den „Bonzenstaat“.
Entsprechend ist meine These zu den Hintergründen der RAF-Selbstauflösung, abweichend von Butz Peters, nicht die, dass man auf der Kommandoebene frustriert war, weil keiner dem militanten Aufruf zur Errichtung des Kommunismus folgen wollte, sondern der, dass die RAF zur Errichtung der neokommunistischen „offenen und vielfältigen Gesellschaft“ in Deutschland einfach in den späten 90ern nicht mehr gebraucht wurde. Der militante Kampf der RAF hatte sich überlebt. Kanzlerin Angela Merkel ist heute auf friedlichem Wege dort angekommen, wo die RAF mit gewaltsamen Mitteln hinwollte. In der „offenen“ Republik, ohne Grenzen. Eine RAF, die heute gewaltsam gegen den kulturmarxistisch okkupierten Merkel-Staat vorginge, wäre eine Absurdität an sich und würde faktisch gegen die eigenen Leute kämpfen.
Wie auch immer, für einen spannend geschriebenen Überblick über den Werdegang von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und die beiden folgenden RAF-Generationen, bietet Butz Peters immer noch einen lesenswerten Einstieg, auch wenn manche Darstellung wie die Umstände der Ermordung des Generalbundesanwalts Buback heute als überholt gelten muss.